Gortchakova, Eugenia

Künstler - Freundeskreis Bildende Kunst Oldenburg e.V.

07b_Schatten I_ergebnis

Gortchakova, Eugenia

Nachlassverwalter

Weichardt, Jürgen

Adresse

Kaiserstr. 7, 26122 Olenburg

Telefon

0441-26249

E-Mail

weichardt.juergen76@gmail.com

Homepage

Beschreibung

Malerei

Gegensätze aushalten

Um die Jahrtausendwende hatte Eugenia Gortchakova mehrfach zum Ausdruck gebracht, sie lebe mit Kontrasten, diese bestimmten ihr Leben. So schrieb sie: „In Paris habe ich Kunst von Agnes Martin entdeckt und später von Roman Opalka – Ruhe und Zeit. Ich habe Distanz zu mir selbst ge-funden und dadurch meine Kunst. Die Gegensätze, die mich zerrissen hatten, sind nicht verschwunden, aber ich habe eine Methode gefunden, sie auszuhalten. Ein Strich – eine Geste der Hand mit dem Pinsel, Atom der Malerei und der Zeit.“ Diese Begegnungen haben dazu beigetragen, dass sie von ihrem abstrakt expressionistischen Stil Abstand nahm und praktisch Bild für Bild lang-sam zu einer meditativ geprägten Komposition wechselte.

In den neuen, seit Paris geschaffenen Bildern löste sie sich ganz von der heftigen Farbigkeit. Sie führte in hellen Tönen einzelne Pin-selstrichfolgen zu ornamental wirkenden Ketten oder Geflechte zusammen, die diagonal die Lein-wand überquerten. Im Oldenburger Kunstverein wurden diese Bilder im Herbst 1992 gezeigt. Dann nicht wieder; denn im Winter fand die Künstlerin zu jenen Strukturen, die ihr Werk bis zu ihrem Tod be-stimmen sollten. Malen wurde ein Akt des Meditierens, die sichtbare Gliederung in zahlreichen Folgen von einzelnen kleinen Pinselstrichen ein Wahrnehmen der eigenen Lebenszeit.

Für jemand, der im Alltag oft möglichst viel möglichst gleichzeitig erledigen wollte, wurde das Malen solch strukturaler Kompositionen zu einem Erleben von Geduld, von Selbstdisziplin. Das gleichmäßige „Schreiben“ der Striche erlaubte zugleich das Denken über Anlass und Komposition hinaus und ermöglichte Eugenia Gortchakova die Beschäftigung mit Philosophen wie Karl Jaspers oder Jacques Derrida, vor allem aber mit Mihail Bachtin und Hannah Arendt. Die Malerei verwan-delte sich in philosophische Kommunikation.

Die meditative Arbeitsweise führte zur Selbstreflexion, zur verstärkten Wahrnehmung des eigenen Ichs. Wohl verstand sie den Ausdauer heischenden Prozess des Malens auch als Selbstreinigung, als „Katharsis“, wie die taz Bremen (9.4.99) einen Aufsatz überschrieben hatte. Aber die permanente Lektüre des Werkes des Philosophen Bachtin eröffnete ihr gleichzeitig den Ansatz, den existentiel-len Gegensatz zwischen dem Ich und dem Anderen aufzuheben: “Ich für mich – ich für den an-deren“. Sie sah ihre Bilder, besonders, wenn sie Porträts, Gestalten und Texte enthielten, als Anregung, als Aufforderung für die Anderen. Eugenia Gortchakova war eloquent genug, in der Öffentlichkeit über ihre Kunst zu sprechen, ihr Werk zu vermitteln.
Entdeckung und Entwicklung des meditativen Malens haben sie nicht daran gehindert, gleichzeitig andere Formen der künstlerischen Arbeit zu erproben, etwa die Druckgrafik, um an Grafikbiennalen teilnehmen zu können. Die Fülle der Möglichkeiten, sich an Ausstellungen zu beteiligen, ließ schon in Paris die Frage einer Rückkehr nach Russland in den Hintergrund treten. Der Wechsel der Staats-bürgerschaft hat die Verbindungen nach Moskau und Kirov aber nicht gestört. Von 1996 an waren Russland-Reisen so selbstverständlich wie Fahrten nach Paris, nur umständlicher wegen der Visa.

Die Ankunft in Kirov morgens um 6 Uhr brachte eine Überraschung, ein TV-Team stand auf dem Bahnsteig und filmte die Heimkehr einer Künstlerin. Das Team brachte Eugenia Gortchakova auf den Gedanken, es in diesem Medium selbst zu versuchen. Das führte zu neuen Übungen und ver-langte einen weiteren großen Zeitraum, der mit Geduld ertragen werden musste. Vorangetrieben wurde die Arbeit am Video, als die Artothek Oldenburg ein Porträt der Künstlerin beim Filmema-cher Wolfgang Wortmann in Auftrag gab. Die Zusammenarbeit zwischen Filmer und Künstlerin schuf die Basis für weitere Videoprojekte. Herausragend wurde „Wie ein Blatt im Wind“, 2006, das in New York entwickelte, ganz eigenwillig nach dem Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers strukturierte Video, in dem sie zugleich zahlreiche Eindrücke der Metropole NY in kur-zen Schnitten verarbeitete. In dem über Jahre hinweg in zahlreichen Workshops entstandenen Video „Alteritè“ ergeben die Struktur der kurzen Schnitte, der Dialog- und Interview-Charakter, das soziale Engagement und die Offenheit im Begegnen mit Fremden eine spannende Schau individuel-ler Haltungen und Ansichten von Menschen in Europa, Asien und Afrika.

Im letzten Jahrzehnt trat als drittes Medium an die Seite von Malerei und Video: die Fotografie, besonders die Doppel- und Mehrfachbelichtung. Der Fotoapparat hatte Eugenia Gortchakova aber schon vorher begleitet. Das um die Jahrtausendwende begonnene „Paradies“-Projekt, in dem Menschen nach ihrer Vorstellung vom Paradies befragt wurden, verband jeweils ein Porträtfoto mit Malerei eines der Aussage entsprechenden Motivs. Ideen, was über Erinnerungswertes hinaus einer Fotografie wert sei, entwickelten sich in Verbindung mit Reisen. Auch auf diesem Gebiet hat der sechswöchige Aufenthalt in New York den Durchbruch gebracht; denn neben vielen Kuriosa, die ihr auffielen, waren es Spiegelungen, in denen das Feste und Kantige der Architektur in weiche und gebogene Formen verwandelt wurden. In Venedig entstanden Aufnahmen von Wasserspiegelungen.

Hatte die Malerei den gedanklichen Raum für Reflexionen über einige ausgewählte Philosophen geöffnet und ermöglichte das Video die Annäherung an einige ihrer Grundpositionen und an exis-tentielle Fragen, so zeigten die Fotografien die Rückkehr in die Außenwelt an. Aber es sind gerade die Doppelbelichtungen, die das Konkrete der Realität in Frage stellen und in ihr das Spirituelle suchen.

Jürgen Weichardt